Eine Reminiszenz eines Alten Herrn

Nach meinem Abitur an einem humanistischen Gymnasium in Stuttgart und der anschließenden Wehrdienstzeit schrieb ich mich im WS 1979 im Studiengang Physik an der Universität Stuttgart ein. Der Studiengang war inhaltlich das, was ich zu lernen erhoffte, jedoch war der Kontakt zu meinen Kommilitonen weitestgehend entweder sehr oberflächlich oder nur wissenschaftlich durchdrungen. Da ich selbst auch über andere Dinge sprechen und gerne auch nebenher Unternehmungen jedweder Art ergreifen wollte, wozu ich auch etliche, frustrierender Weise meist fruchtlose Versuche angestellt habe, stellte sich mir die Frage, ob ich eigentlich noch ganz normal bin oder ob das an den anderen oder an beiden Seiten liegen könnte. Schon während des gesamten Studiums und insbesondere gegen Ende des Diplom-Studiums nach immerhin 14 Semestern beschäftigte mich als Humanist das Thema dauerhafte Freundschaft und die Auffindung Gleichgesinnter zumindest was Interessen, ethische Werte wie Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Herzlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit und Treue anbetrifft.

Mein Studium war inzwischen erfolgreich zu Ende gebracht und ich war drauf und dran zu promovieren. Hierbei kam ein weiterer Zufall mir zur Hilfe. Hierbei durfte ich nebenher Diplomanden betreuen, von denen einer sich als Korporierter outete. Dieser lud mich zu einem großen Fest an der Universität ein, das von vielen Korporationen Stuttgarts veranstaltet wurde. Ich nahm gerne an und sah mir die einzelnen Verbindungen an, die jeweils Informationsstände betrieben hatten. Viele kamen für mich aufgrund fehlender Voraussetzungen auf beiden Seiten nicht in Frage. Eine einzige Verbindung stach aus der Masse heraus, das sich als Corps Teutonia herausstellte. Die Mitglieder unterhielten eine Sektbar, waren in Anzügen mit Krawatte gekleidet. Das zog anscheinend jede Menge hübscher Studentinnen an, was mir nicht unsympathisch war.

Man zeigte sich offen meiner Fragen gegenüber und geradezu überschwänglich und lud mich in der Folge zu einer der vielfältigen Veranstaltungen auf dem Corpshaus ein. Das war in meinem Fall das Martinsgansessen, das ich bislang gar nicht gekannt hatte. Es war ein erstes Aha-Erlebnis, sehr stylisch, das Haus war voller Leute, älterer Mitglieder, der sogenannten Alten Herren, und deren Ehefrauen sowie vieler Jüngerer und Gleichaltriger, was mich anbetraf. Mir gefiel das und scheinbar stellte ich mich auch nicht dumm an, da ich dann für das Weihnachtswochenende des Corps eingeladen wurde, das immer eines der Highlights jedes Jahres darstellt. Hier wurde ich zum ersten Mal gewahr, dass Jung und Alt nebeneinandersaßen und miteinander sprachen, als gäbe es keinen Altersunterschied. Man interessierte sich sehr füreinander mit herzlichem Umgang. Somit war das gegeben, wonach ich suchte und stellte einen Antrag zur Aufnahme, dem alsbald stattgegeben wurde.

In meinem Aktivenleben war ich aufgrund meines späten Eintritts nach dem Studium deutlich älter als meine Conaktiven, was aber sich als charmante Ergänzung zueinander erwies. Wir waren damals etwa neun Füchse, also Jungmitglieder, genauso viele Aktive und mehr als reichlich Inaktive, so dass sämtliche Arbeiten und Veranstaltungen sich auf viele Schultern verteilen konnten. Das hat jedem natürlich mehr Spaß gebracht und wir konnten unser Aktivenleben in vollen Zügen genießen. Da war es auch keine Schwierigkeit, im Semester einen Haufen an Veranstaltungen zu planen und durchzuführen und dabei seiner Kreativität und Fantasie freien Lauf zu lassen. Ich erinnere mich an Spontankneipen in der Küche und Spieleabende im Frühstückszimmer, in dem vor lauter Leuten, es waren auch häufig Couleurdamen anwesend, die Luft knapp wurde. Es waren erfüllende Semester, die Hauptveranstaltungen waren rappelvoll, Alte Herren kamen von überall her und scheuten keine Distanzen, wenn sie nicht gerade im Ausland beschäftigt oder wohnhaft waren.

Als schlagende Verbindung fechten wir natürlich. Der Sinn und Zweck dieses Fechtens erschließt sich im Übrigen nur dem, der es wirklich einmal probiert hat. Eine derartige Stimmung unter Freunden wie auf dem Mensurboden erlebt man sonst nirgendswo. Man ist als Paukant getragen von den guten Wünschen und dem Hoffen, dass alles gut läuft, als ob man auf einer Wolke schweben würde. Man kann das studentische Fechten als Sport ansehen, was dem Sinn jedoch nicht ganz gerecht wird. Vielmehr ist das Fechten über eine Mutprobe hinaus eine Möglichkeit, sich und anderen zu beweisen, dass man uneingeschränkt hinter seinen Freunden und den inneren Werten steht, die das Corps erfüllt, und dafür Unangenehmes ohne mit der Wimper zu zucken auf sich nimmt, wobei man das zeigt, was man vorher im Training gelernt hat.

Aufgrund dessen, dass doch viele Corpsbrüder nach ihrem Studium Stuttgart verließen, war die Schar der Ämter, die auch die Alten Herren in ihrem Kreise inne haben, auf nicht sehr viele Besetzungsmöglichkeiten beschränkt. So wurde ich für vier Jahre zum Schatzmeister gewählt, einem Amt das einem Physiker so gar nicht liegt, anschließend zum stellvertretenden Vorsitzenden des VaStT für viele Jahre und schließlich für zwei Jahre zum Vorsitzenden der Altherrenschaft. Auch wenn nicht alles mein Wunsch und manches recht mühsam war, habe ich doch viel gelernt. Menschenführung und Diplomatie, Vertretung des Corps nach innen und außen. Und es war mir trotz aller Anstrengung eine Ehre, dies tun zu dürfen.

Jetzt bin ich schon seit 35 Jahren Mitglied im Corps und bereue meinen damaligen Schritt aktiv zu werden, nicht. Schließlich ist das Band unter den Corpsbrüdern unheimlich eng, man ist sich vertraut. Freunde zu finden, war mein Wunsch. Dieser ging schon schnell in Erfüllung. Und die Freunde blieben.

Man darf allerdings eines nicht vergessen: ohne sich um das Corps fortwährend zu bemühen, geht es nicht. Bzw es geht den Bach hinunter. So hatten wir immer wieder durch eine zwischenzeitliche Laissez-Faire-Einstellung große Nachwuchssorgen, so dass ich selbst noch im vorgerückten Alter von etwa 50 Jahren für ein Semester den Fuchsmajor stellen durfte und sechs Füchse zu begleiten hatte, von denen vier im Corps geblieben sind und zum großen Teil auch bereits Alter Herr wurden. Andere Corpsbrüder hatten nach einem Jahr der Suspendierung mit einem unglaublichen Kraftakt das Corps restituiert. 

Und: es klappt nicht immer alles, was man sich vornimmt. Das darf aber einen nicht dazu verleiten, in Frustration zu verfallen, sondern man muss beständig weitermachen und unterstützen.

Was kann ein Jungmitglied lernen? Alles, was das Leben betrifft, sowohl beruflich als auch privat, in einer Art vorgelagertem Training im Zeitraffer. Nicht zu vergessen, den Aufbau eines Netzwerks, das sonst seinesgleichen sucht. Man lernt organisieren, Zeitmanagement verinnerlichen, trotzdem eine Menge Spaß haben, auf mehr oder minder elitäre Veranstaltungen gehen, die man vielleicht sonst mangels Kenntnis nicht besucht hätte. Das Leben im Corps und mit dem Corps stellt eine Horizonterweiterung dar, die man als „normaler“ Student nicht ansatzweise finden kann.

Michael Lierheimer, Aktiv seit WS 87